Auður Ava Ólafsdóttir: Miss Island

  Zusammen ist man weniger allein

Denke ich an Island, fallen mir Vulkane, Fischerei, Islandpferde und die alten Isländersagas ein. Spätestens seit dem Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2011 unter dem Titel „Sagenhaftes Island“ bewundere ich die für ein Land mit nur knapp 360.000 Einwohnern hohe Zahl von Autorinnen und Autoren. Daneben gilt Island aber heute – wie alle nordischen Länder – als Vorbild in Toleranz, Geschlechtergerechtigkeit und liberaler Haltung gegenüber LGTBQ, immerhin gibt es gleichgeschlechtliche Ehen bereits seit 2010.

Über eine völlig andere gesellschaftliche Realität in den 1960er-Jahren, als sexuelle Übergriffe auf Frauen alltäglich und akzeptiert waren, Schriftstellerinnen misstrauisch beäugt wurden, Homosexuelle unter polizeilicher Beobachtung standen und farbige US-Soldaten als unerwünscht galten, erzählt die 1958 geborene Isländerin Auður Ava Ólafsdóttir in ihrem 2019 mit dem Prix Médicis étranger für den besten ausländischen Roman des Jahres ausgezeichneten Buch Miss Island.

Strenge gesellschaftliche Normen
1942
wird Hekla auf einem Bauernhof im westisländischen Dalir geboren und von ihrem vulkanbegeisterten Vater nach einem solchen benannt. Mit 21 Jahren zieht es sie samt Schreibmaschine, englischsprachiger Ulysses-Ausgabe und Romanmanuskript nach Reykjavík. Sie träumt von einer Zukunft als Schriftstellerin und Zugehörigkeit zum Stammtisch der männlichen Poeten im Café Mokka. Doch 1963 sieht die isländische Gesellschaft ganz anderes für Frauen vor: Teilnahme an Miss-Wahlen und Familiengründung. Heklas Freundin Ísey, die als jungverheiratet Mutter inzwischen in einer Kellerwohnung in Reykjavík lebt und eigentlich auch gerne schreiben würde, hadert mit ihrem Schicksal:

„Du ziehst hinaus in die Welt, und ich bliebe hier und hoffe, dass der Fischhändler den Schellfisch in ein Gedicht oder einen Fortsetzungsroman einwickelt.“ (S. 191)

Und noch ein Freund lebt seit Kurzem in der Hauptstadt: Jón John, vaterloses Besatzungskind, hübschester Junge von Dalir und ständiges Opfer von Hass und Spott, weil er immer schon die Nähmaschine den Spielen der Kameraden vorzog. Für den schwulen jungen Mann ist das Leben in Reykjavík nicht einfacher als auf dem Land:

„Wir gelten als Knabenschänder. […] Wir werden anspuckt. Wer ein Telefon hat, wird nachts angerufen und bekommt Morddrohungen.“ (S. 55)

© B. Busch

Sein Traum von einer Arbeit als Kostümschneider beim Theater oder in einem Modehaus scheint noch ferner als Heklas:

„Auch wenn die Welt keinen Platz für einen Schwulen hat, Hekla, dann hat sie Platz für eine Schriftstellerin.“ (S. 234)

Aufbruch zu neuen Ufern
In Ermangelung isländischer Vorbilder liest Hekla Bücher ausländischer Schriftstellerinnen wie Harper Lee, Silvia Plath, Simone de Beauvoir oder der soeben in Deutschland (wieder-)entdeckten Tove Ditlevsen. Eines immerhin kann Island ihr bieten: Buchhandlungen überall, gut sortierte öffentliche Bibliotheken und alte Isländersagas sogar in den Bücherschränken der entlegensten Gehöfte, die vor allem auch gelesen werden.

Wenig spürt man dagegen 1963 auf Island von Martin Luther King, John F. Kennedy oder den Beatles, die anderswo die Menschen bewegen. Jón John hält nichts auf seiner Insel und Hekla folgt ihm, nachdem ihre Beziehung zu Starkaður, einem Dichter mit Schreibhemmung, an Kollegenneid und mangelndem Verständnis gescheitert ist.

Aber ist auf dem Festland wirklich alles besser? Welche Zugeständnisse werden auch dort nötig?

Miss Island ist ein ebenso gut zu lesender wie informativer, nicht wehleidiger Roman über Diskriminierung, Träume, Begeisterung, Zielstrebigkeit, Mut und eine der berührendsten Freundschaften, die ich je in der Literatur gefunden habe. Mit jeder Seite wächst die Lust auf mehr isländische Bücher, vor allem von Frauen.

Auður Ava Ólafsdóttir: Miss Island. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel 2021
www.suhrkamp.de/verlage/insel-verlag-s-22

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